Bombennacht in Elmshorn

Wenn feindliche Flugzeuge über Deutschland ihre Ziele anflogen, heulten die Sirenen ‚Fliegeralarm’ und die Menschen mussten in Kellern, in Bunkern oder anderen ‚sicheren’ Räumen Schutz suchen gegen die Bombenangriffe. In der Regel kamen die Flieger nachts. Dann weckten uns unsere Eltern, wir zogen uns warm an und gingen aus dem Haus an der Kruck über die Straße auf die Weide gegenüber, weit genug weg von den Häusern, und legten uns auf die mitgenommenen Wolldecken.

Eigentlich sollten wir in den Keller des Maschinenhauses in der Kläranlage gehen. Als mein Vater sich dort den Raum drei Stahltreppen tief unter der Erde angesehen hatte, darüber die schweren Pumpanlagen, entschied er, niemals mit seiner Familie dort hin zu gehen. „Auf der Weide sind wir viel sicherer vor den Bomben!“ Deshalb verbrachten wir, meine Eltern mit ihren vier Jungs, seit 1942 so manche Nacht gut eingepackt draußen auf der Weide in der Dunkelheit. Jeder von uns wusste, was er vom immer bereit stehenden kleinen Gepäck zu greifen, mit zu nehmen und nicht mehr aus den Augen zu lassen hatte: die Wolldecken, einen Koffer oder Rucksack, einen Korb mit Verpflegung ... Ich war für einen Beutel mit unseren wichtigen Papieren verantwortlich. Irgend welche Straßenbeleuchtung oder Licht aus den verdunkelten Häusern gab es natürlich nicht. Aber wir kannten auch im Finstern den Zufahrt über die Wettern zu Milchmann Pipers Haus und durch das Gatter auf die Weide wie unsere Hosentasche. Hier spielten wir doch tagaus tagein.

Eines Nachts im Sommer war es wieder einmal so weit. Nachts gegen 1 Uhr heulten die Sirenen. Es war die Nacht vom 2. auf den 3. August 1943. Es war schwül, gewittrig und stockfinster. Ab und zu zuckten Blitze und erhellten das Land mit gespentisch blauem Licht. Fast zu unheimlich, um nach draußen zu gehen. Dazu die Motorengeräusche der herankommenden Flugzeuge. Scheinwerferstrahlen suchten den Himmel nach den Bombern ab.

Bald hörten wir schon Bomben und Luftminen fallen und über Elmshorn wurde die Dunkelheit zum blutroten Tag. Es krachte und heulte überall, als ob das flackernde Inferno gleich um die Ecke hinterm Deich wäre. Wir hielten einer den andern. „Kommt, jetzt gehen wir alle gemeinsam über die Straße, damit wir hier weg kommen.“ Doch genau in dem Moment hörten wir ein unbekanntes Geräusch, wie von tausend Hufen auf dem Steinpflaster, klappern und schnaufen. Rasend schnell kam es von Elmshorn näher, wie die wilde Jagd. Und da erkannten wir sie auch, sie brausten an uns vorbei, schwarze Körper, eine Koppel losgelassener Pferde, in wildem Galopp mit fliegenden Mähnen und Schweifen, ihre eisenbeschlagenen Hufe sprühten Funken auf dem Kopsteinpflaster, stürmten sie die Straße entlang in die Marsch.

Wir wichen vor Schreck ein paar Schritte zurück. Just in diesem Moment explodierte über Elmshorn eine der großen Luftminen. Eine Druckwelle warf uns fast gegen die Hauswand, während hinter uns in allen Fenstern die Scheiben zersprangen und die Scherben hinter unseren Rücken auf das Kopfsteinplaster vorm Haus prasselten. Vor Schreck sprangen wir wieder vor. Nun waren auch die Pferde vorbei und wir machten, dass wir auf unsere sichere Lagerstelle auf der Weide kamen.

Richtung Neuendorf hörten wir noch das Getrappel der Pferde.

Die Lagerhalle vom Fuhrunternehmer Inselmann am Marktplatz war getroffen worden,  jemand hatte die Boxen geöffnet und die Pferde hinaus getrieben.  In wilder Panik suchten sie den Sandberg hinunter das Weite.

Es wurde immer heller von den Bränden in der Stadt. Allmählich lernten wir sogar das Heulen und Pfeifen der Brand- und Sprengbomben zu unterscheiden, duckten uns bei jeder größeren Explosion dicht auf unsere Decke am Boden. Dazu immer das unheimliche Donnerkrachen des Gewitters. Erst gegen halb vier Uhr kam von den Sirenen ‚Entwarnung’.

Von Elmshorn zogen dichte Schwaden von Qualm und Rauch herüber, die uns die Luft nahmen. Schwarze Wolken verfinsterten auch tags darauf noch den Himmel. Die Luft roch verbrannt, tagelang noch flogen schwarze Aschereste herum. Die Feuerwehren versuchten zu retten wo es ging. Der widerliche Brandgeruch lag noch lange über den Trümmern.

Meinen täglichen Schulweg durch die Königstraße, am Bahnhof vorbei nach Langelohe, konnte ich beinahe nicht mehr finden. Viele Häuser im Zentrum waren total zerstört. Nur ein schmaler Pfad führte noch zwischen den Trümmern hindurch durch die Königstraße. Der Bahnhof war zerstört, unsere Schule in Langelohe - meine Mutter war dort Lehrerin – war ausgebrannt. Ab da musste ich nach Hainholz in die Schule gehen.

Ich kann heute noch nicht an einem ausgebrannten Haus vorbei kommen, ohne dass mir der ganzen Schrecken dieser Brandnacht wieder vor Augen steht.