Die Kruck bei Elmshorn – eine Spurensuche
Als ich sechs Jahre alt war zogen meine Eltern 1940 mit uns vier Jungs von Hamburg nach Elmshorn an die Kruck. Ich war im unbekümmerten Spielalter und erlebte dort scheinbar endlose und immer wundervoll aufregende Tage. Da war zum Beispiel nebenan die alte Scheune. Da gab es ausrangierte Pferdewagen, leere Pferde- und Rinderboxen und Heu auf dem Dachboden. Überall war Abenteuerland - auf dem Deich und an der Stöpe, auf den Weiden gegenüber, wo rotbunte Rinder weideten und Herrn Pipers Pferd weite Runden gallopierte, wenn es mittags nach dem Dienst in der Stadt ausgespannt aund auf die Weide gelassen wurde. Wo im Sommer die flachen Gräben voll sonnenwarmem Regenwasser standen und zum Planschen mit nackten Füßen oder zum Stochern im selbstgebauten Kahn einluden, und und und ...
Ich habe an die Kruck die meisten Erinnerungen meiner Kindertage. Heute lebe ich wieder ganz in der Nähe und will diesem Ort und seiner Vergangenheit ein wenig nachspüren.
Wir zogen 1940 in die ehemalige Gastwirtschaft ‚Zur Kruck’ ein. Über der Haustür an der Straße konnte man die alte Schrift noch erkennen. Unser Wohnzimmerwar die ehemalige Schankstube. Dort stand ein hoher Kachelofen. Daneben war noch die Zapfleitung für das Bier aus dem Keller nach oben zu sehen, wie aufregend! Wie hatte es wohl ausgesehen, wie hatte es sich wohl angehört, als in ‚unserem’ Wohnzimmer irgend welche Männer gesessen, Bier getrunken und wahrscheinlich gehörig gelärmt haben? Draußen an der Hausfront waren die Eisenringe zum Anbinden der Pferde noch eingelassen.
Später habe ich mich gefragt, warum wohl an dieser Stelle, gute zwei Kilometer außerhalb Elmshorns an der Chaussee in die Marsch, eine Gastwirtschaft stand. Gastwirtschaft - das heißt doch immer: Treffpunkt für viele Leute, Geselligkeit. Aber hier an der Kruck ist doch gar nichts los.
War das einmal anders?
Warum hieß unser Haus ‚Zur Kruck’?
Die Krückau kommt ins Spiel. Die Krückau ist ein Flüsschen, das von der höheren Geest hinunter in die Marsch und zur Elbe strömt. In der Geest entspringt sie als Rinnsal in kleinen Moorflächen und fließt als schmaler Bach unter Weidenbüschen versteckt und zwischen Viehkoppeln Elmshorn zu. Dort, wo sie in die niedrige, flache Elbmarsch eintritt, ist sie schon ein recht stattlicher Fluss und sucht sich jetzt ihren Weg zur Mündung bei Seestermühe in vielen Windungen und Schleifen.
In alten Quellen wurde die Krückau als ‚Seester Au’ bezeichnet, nach dem Ort Seester nahe der Mündung. Ihr außergewöhnlich krummer Verlauf brachte dem Landstrich rechts und links des Flusses bei den Einheimischen den Namen Kruck oder Kröecke ein, den Flusslauf mittendrin nannten sie die Kröecker Au. Ihr heutiger Name Krückau bedeutet also ‚der krumme, schlingenreiche Fluss’.
Hinter unserem Haus, direkt hinter dem Deich machte sie bis um das Jahr 1870 eine große Schleife nach Norden, die „Kruck“ genannt wurde. Mir fällt dazu das englische Wort crooked – krumm, gekrümmt ein. Das erklärt also den Namen des Gasthauses: ‚Zur Kruck’. Aber das heißt doch, dass da mal was los gewesen sein muss, warum sonst ‚zur Kruck’?
Wenn wir Kinder durch die Stöpe liefen, kamen wir in die Kläranlage. Da waren Teiche und Klärbecken, da verliefen holperige Schmalspurgleise, auf denen eine kleine Lock mit Kipploren tuckerte, und es gab einen großen schwarzen Gasometer, der merkwürdigerweise mal niedrig, mal sehr hoch war. Einen Fluss gab es in der Kläranlage nicht, der floss viel weiter hinten, hinter den Viehweiden. Dort konnten wir dann Dampfschlepper mit ein, zwei oder manchmal sogar drei angehängten Schuten beobachten, die voll beladen nach Elmshorn fuhren. Im Hafen von Elmshorn wurde ihre Last, meistens Getreide, gelöscht.
Sehr spannend war es für uns, wenn nahezu jedes Jahr im Herbst und im Frühjahr Stürme das Wasser aus der Nordsee besonders weit in die Elbe und damit auch in die Krückau hinein drückten. Dann traten in der Krückauniederung vor Elmshorn die Wassermassen über die Ufer. Bis an den Deich heran schwappten die Wellen. Die sonst grünen Weiden mit ihren parallelen Gräben wurden zu einer einzigen Wasserfläche, aus der hier und da ein einzelner Busch heraus ragte. Auch der Hafen und die Innenstadt von Elmshorn wurden immer wieder überflutet.
Für uns Kinder waren das aufregende Tage. Es kam vor, dass wir draußen vor dem Deich spielten und das Wasser kam unaufhaltsam, manchmal so angstmachend schnell, dass wir zusehen mussten, wie wir noch rechtzeitig auf den sicheren Deich zurück kamen.
Besonderen Spaß hatten wir, wenn in kalten Wintertagen die überfluteten Weiden zufroren und eine endlos blanke Eisfläche entstand. Dann sausten wir mit unseren Schlitten vom Deich hinunter aufs Eis so weit hinaus wie möglich. Gruselig, wenn das Eis dabei knisterte und dröhnte. An vielen Stellen sah man unter’m Eis das gefrorene Gras und die dunklen Gräben. Ich glaubte, dass da unten unheimliche Wesen hausten, die mich beobachteten.
Seit 1969 sorgt das Krückau-Sperrwerk nahe der Mündung dafür, dass die Flussauen und die Innenstadt bei Sturmfluten nicht mehr unter Wasser stehen.
Direkt neben unserem Haus an der Kruck war die Stöpe, eine enge Durchfahrt durch den Deich, die bei Sturmflutgefahr mit starken Holzbohlen und Sandsäcken wasserdicht abgesperrt werden konnte. Es gibt sie heute noch. Eine Stöpe war zu früheren Zeiten ein sehr wichtiges Bauwerk.
Da kommt wieder die Frage:
Was lag hier Wichtiges hinter dem Deich, dass man einen solchen Durchlass brauchte?
Wir stöbern dazu in alten Karten und fragen Geschichtsbücher:
Schon zur Mitte des 14. Jahrhunderts hatte sich das Dorf Elmshorn mit seinem Übergang über die Krückau zu einem Marktort entwickelt. Besonders während der Frühlings- und Herbstviehmärkte herrschte am Markt, wo die lange Handelsstraße von Nord nach Süd in einer Furt die Krückau querte, reges Treiben und Feilschen der Händler und sorgte dafür, dass Kaufleute, Bauern, Handwerker, Bootsbauer und Fischer herkamen und sich hier ansiedelten. Der Warenhandel ging vor allem nach Hamburg.
Landwege waren damals für die Planwägen der Händler fast unpassierbar. Die meisten Waren wurden deshalb auf dem Wasserweg transportiert, über Krückau und Elbe. Leider machten die engen Flussschleifen die krumme Krückau dicht vor Elmshorn fast unbefahrbar. Alle größeren Schiffe konnten nur in der letzten weiten Krümmung, eben der ‚Kruck’, beladen und entladen werden. Dieser Verladeplatz entwickelte sich für Elmshorn und das ganze Umland zum wichtigsten Platz.
Vor allem Getreide wurde verladen. Dazu kam Torf als Brennstoff aus den Mooren, und ganz besonders gefragt war Holzkohle aus dem Kiesdorfer Wohld. Später kamen das vor allem in den nordischen Ländern begehrte Elmshorner Rotbier und der Elmshorner Branntwein dazu.
Der Ladeplatz an der Kruck war so lebenswichtig, dass der Landesherr der kleinen Grafschaft, zu der die Städte Barmstedt und Elmshorn gehörten, der Reichsgraf Detlev Rantzau, im 17. Jahrhundert einen Steindamm von Barmstedt quer durch Elmshorn bis an die Kruck bauen ließ, damit die Bauern und Händler ihre Waren dorthin bringen und verschiffen konnten. Er durfte nämlich auf der Krückau Zoll erheben, das brachte ihm gute Einnahmen. Solch ein mit Steinpflaster befestigter Verkehrsweg war damals etwas Einmaliges, es gab sonst nur matschige oder sandige Fuhrwege, die bei schlechtem Wetter unbefahrbar waren. Die Straße von Barmstedt zur Kruck war die erste gepflasterte Chaussee in Holstein. Wie sie aussah kann man heute noch am Sandberg nachempfinden, wo man über das alte Kopfsteinpflaster holpert.
Malen wir uns doch einmal aus, wie hier an der Kruck tagaus tagein Waren aus Elmshorn und aus der Marsch antransportiert und verladen wurden, wie die schweren Fuhrwerke durch die Stöpe zum Ladeplatz rumpelten. Kisten und Ballen wurden ausgeladen und gestapelt. Geschrei und Hufeklappern auf dem Kopfsteinpflaster. Kaufleute beaufsichtigten das Beladen und Entladen ihrer Waren.
An einem solchen Platz musste selbstverständlich eine Schankwirtschaft sein. Fuhrleute, Hafenarbeiter, Schiffsleute – alle waren durstig und brauchten Arbeitspausen. Auf einem alten Bild erkennt man links neben der Stöpe das erste Wirtshaus an der Stelle, wo später ‚unser’ Haus Zur Kruck stand. Hinter dem Deich erkennt man Lastschiffe, die hier festgemacht haben.
Einsam war es also keineswegs. Hier war sogar der wirtschaftlich wichtigste Platz von Elmshorn. Die feste Straße endete hier am Hafen. Natürlich musste es eine Gastwirtschaft geben. In ihr wurde zugleich der Zoll für den Landesherrn kassiert.
Elmshorn bekommt einen neuen Hafen
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde den Kaufleuten in Elmshorn immer klarer, dass der Warentransport auf der Krückau nur verlässlich werden konnte, wenn alle Schiffe ihre Ladung direkt in Elmshorn entladen würden. Man hatte schon versucht, den Fluss zu vertiefen, damit Schiffe besser fahren konnten. Das brachte aber keinen rechten Erfolg. Ein jederzeit schiffbarer Handelsweg würde nur dann entstehen, wenn auch die letzten Schleifen vor Elmshorn begradigt und vertieft würden. Das war aber teuer und dauerte viele Jahre.
1868 war es so weit. Die Stadt verlegte den Lösch- und Ladeplatz nach Elmshorn an die Dammbrücke. Damit begann in Elmshorn eine ganz neue Zeit:
Die Stadt kaufte Ackerland am Südufer und mehrere Viehweiden am Nordufer und baute die Lösch- und Ladeplätze aus. Der Betrieb im Hafen wurde bald immer lebhafter. 1889 waren zum Beispiel 2091 Schiffe eingelaufen, also jeden Tag des Jahres 5 bis 6 Schiffe!
Seit 1844 fuhr die neue Eisenbahn von Hamburg-Altona nach Kiel. Sie führte durch Elmshorn. Sie übernahm große Mengen des Warentransports von und nach Altona und Hamburg.
1897 taten sich Elmshorner Kaufleute zusammen und bauten eine Zweiglinie vom Güterbahnhof zum Hafen. Mühlenwerke von Peter Kölln und Schlüter siedelten sich am Südufer des Hafens an. Elmshorn wurde in diesen Jahren zum drittgrößten Umschlagsplatz für den Getreideverkehr in Deutschland.
Eine Dampfschiffreederei wurde gegründet, die bisherigen kleinen Frachtewer durch Schleppdampfer und Schuten ersetzt.
Die kleinen, vom Wind abhängigen Frachtsegler waren bisher bei ungünstigen Verhältnissen oft bis acht Tage nach Hamburg unterwegs. Mit den Schleppern und Lastkähnen sparte man viel Zeit. Von Hamburg wurde jetzt vor allem Getreide und Kies herantransportiert.
Im Hafen lagen damals Schiffe jeder Art in doppelter Reihe nebeneinander. Ewer, Leichter, Schuten und Kutter am nördlichen und südlichen Hafenkai und löschten ihre Ladung: am Nordufer in Fuhrwerke, am Südufer in die Güterwagen der Hafenbahn oder durch Saugheber direkt in die Mühlenwerke. Ich habe heute noch das Geräusch in den Ohren, wenn das Getreide mit großer Kraft knisternd und rauschend bei Peter Kölln in die Silos gesaugt wurde. Manches Schiff musste damals tagelang vor dem Hafen auf einen freien Liegeplatz warten.
Die Kruck geriet danach in Vergessenheit. Am ehemaligen Ladeplatz wurde es still.
Auf einer Karte von 1878 ist eine Ziegelei verzeichnet, die auf dem Gelände der alten Flussschlinge Lehm gräbt und Backsteine brennt. 1933 wird das abgetrennte Flussbett aufgefüllt, ein neuer Deich wird gebaut und auf dem Gelände zwischen altem und neuem Deich entsteht die neue Kläranlage für die Abwässer der vielen neuen Elmshorner Industriebetriebe, vor allem der vielen Gerbereien.
Diese Kläranlage war das Revier unserer Kinderspiele. In der mit Wasser gefüllten Tongrube der alten Ziegelei fischten wir mit Käschern Molche und Wasserflöhe.
Auf einer zugefrorenen Restfläche der alten Flussschlinge lernte ich Schlittschuhlaufen. Im Sommer zog ich dort ein herrenloses, verloddertes Fahrrad aus dem mit Müll überqullendem Wasser und machte es mir wieder fahrbereit. Und eine düstere, mit Erlen bewachsene Mulde hinter dem Deich mieden wir, sie war uns unheimlich. Heute weiß ich, sie war auch ein Stück der zugeschütteten alten Krückau.
So fand der einst so geschäftige und bedeutsame Platz von Elmshorn ein stilles Ende.
Wer heute auf der Bundesstraße 431 durch die Marsch nach Glückstadt fährt beachtet kaum das letzte Haus links hinter der Kurve am Deich. Die weiteren Gebäude, das reetgedeckte Wohnhaus mit vier Wohnungen darin und die verlassene Scheune mit dem gestampften Lehmboden in der Diele und all den aufregenden Winkeln zum Spielen, wurden abgerissen. Nur ein eingezäunter, verwahrloster Lagerplatz mit ein paar Haufen alter Pflastersteine ist übrig geblieben.