Tiefflieger und andere schlimme Geschichten
In den letzten Kriegsmonaten donnerten mehr oder weniger täglich Tiefflieger über den Himmel, die auf alles ihre MG-Salven abfeuerten, was sich unten bewegte - eine gefährliche und Angst machende Zeit. Wir Kinder waren darauf getrimmt, uns beim ersten Geräusch eines „Fliegers“ auf den Boden zu werfen oder sofort in irgend einem Schatten zu verschwinden.
Es war mal wieder so weit. Ein warmer Spätsommertag. Wir spielten auf dem Deich hinter’m Haus als ein Tiefflieger heranbrauste. Ich warf mich der Länge nach auf den Bauch und kullerte holterdipolter den Deich hinunter. Auf der Rückseite des Deichs hinter einem Drahtzaun war unser Gemüsegarten. An diesem Zaun blieb ich liegen und rührte mich nicht, obwohl ich hätte brüllen mögen vor Schmerzen. Ich war mitten in einem der großen Brennnesselbüsche gelandet, die dort reichlich standen - und hatte natürlich nackte Arme und nur kurze Strickhosen an. Die Gefahr war schnell vorüber, aber vom Brennen der Nesseln habe ich nachts darauf noch etwas gehabt.
Für unsere Eltern war es eine schwere Zeit. Nicht nur, daß mein Vater ständig damit rechnen mußte, unliebsamen Besuch aus der „Partei“ zu bekommen, weil er der NSDAP immer noch nicht beigetreten war. Das wurde genau beobachtet, hatte er doch als Lehrer in der Adolf-Hitler-Schule (heute wieder Blaue Schule) ein öffentliches Amt. Ein wohlmeinender Kollege, Herr Mehlert vom Sandweg, selbst ein Parteigenosse, schien sich damals wohl ein wenig vor meinen Vater zu stellen. Dafür schickte mich Vati ab und zu mit einer kleinen Tüte Zigarren aus seiner Zuteilung, die er selbst nicht rauchte, zu ihm. Wie lange mochte das gehen? Vati versuchte sein Interesse an der Volksgemeinschaft dadurch zu beweisen, daß er immer freiwillig Aufgaben übernahm, z.B. Sammlungen für die ‚Volkswohlfahrt’. Zwar mußten dann meistens Hans-Michael und ich mit den Sammelbüchsen losziehen, aber wir fanden es lustig, den Leuten kleine bunte Glasabzeichen oder ähnliche Anstecknadeln zu verkaufen.
Wir wussten kaum etwas davon, was unsere Eltern damals ängstigte.
Das war nämlich so. Vati und wir Jungs hatten schon vor einer ganzen Weile ein Stück deichabwärts unterhalb der Ziegelei außen vor dem Deich einen Abflußgraben so weit verbreitert und ausgehoben, daß unser Segelboot vom Jachthafen in Elmshorn dorthin verlegt werden konnte. Seither lag es dort zwischen Weidenbüschen versteckt. „So kommen wir leichter als vom Jachthafen zur Elbe wenn wir segeln wollen“ sagte mein Vater.
Er hatte ganz etwas anderes geplant, aber das erfuhren wir erst viel später.
In den letzten Kriegswochen wurden immer wieder der Partei unliebsame Leute von Männern in schwarzen Ledermänteln abgeholt und auf die Polizeiwache gebracht. Sie verschwanden dann meistens spurlos in Straflagern. Der Kollege Mehlert hatte meinen Vater vor einiger Zeit beiseite genommen und ihm gesagt: „Pass auf, Otto, ich weiß nicht warum, aber es muss da mal was gewesen sein. Auf jeden Fall stehst du auf der ‚schwarzen Liste’. Sei vorsichtig.“
Bei Pastor Harder von der Nikolaikirche - flüsterte man -, der auch nicht in der Partei war, hatten die Männer in ihren schwarzen Ledermänteln auch schon nachts vor der Tür gestanden, um ihn abzuholen.
So lag seit einiger Zeit in Vatis Kleiderschrank ein Köfferchen mit dem Nötigsten griffbereit. Ich bin erst viel später dahinter gekommen, dass mein Vater damals Tag und Nacht darauf vorbereitet gewesen war, bei dem leisesten Verdacht hinten durch die Küchentür hinter dem Deich in Richtung Segelboot zu verschwinden. Bei ausreichend Wasser konnte er dann über die Elbe entkommen.
Wie gut, dass wir beiden ‚Kleinen’ diese täglichen Ängste unserer Eltern kaum wahrgenommen haben.
Garnicht lustig fanden deshalb unsere Eltern das folgende Ereignis:
In den letzten Kriegswochen wurden ältere Männer und unreife Jüngelchen als letztes Aufgebot gegen den Feind zum ‚Volkssturm’ eingezogen. Der Elmshorner Volkssturm bekam den Auftrag, an der Kruck eine Panzersperre gegen die feindlichen Armeen aufzubauen. ( Ob da wohl im Unterbewusstsein der Leute, die dies ausheckten, der Gedanke vorhanden war, dass es dort schon einmal eine Schanze, damals gegen die feindlichen Schwedenheere, gegeben hatte? ) Es wurde also ein Lastwagen voll Trümmersteine, die es damals in Elmshorn reichlich gab, an die Brücke hinter der letzten Scheune gekarrt und abgeschüttet. Ein paar Unverdrossene hatten gleich damit begonnen, eine breite Schicht über der Chaussee nach Glückstadt aufzustapeln. Ha ha! Als ob die Panzer nicht ohne weiteres um die Sperre herum über die Weiden hätten weiter fahren können.
Mein Bruder und ich fanden es toll, dass es etwas zu Bauen gab. Wir stapelten nachmittags fleißig weiter und erzählten beim Abendessen von unserem verdienstvollen Tun an der ‚Panzersperre’.
„Laßt gefälligst eure Finger davon, hört ihr!“ kam da Vatis strengste Anweisung. Es war für uns wie eine kalte Dusche. „Ich kann in allergrößte Schwierigkeiten kommen.“ Wie sollten wir uns das erklären? Wir waren doch richtig tüchtig gewesen.