Unser Schwein zieht um
Als im Jahr 1945 der unsägliche Krieg unabwendbar seinem Ende entgegen ging, zogen oft versprengte Soldaten in abgerissenen Uniformen auf der Landstraße an unserem Haus vorbei, klopften auch an der Haustür und baten um etwas zu trinken oder auch um Essen. Es war eine unsichere Zeit. Ehemalige Fremdarbeiter ( bei uns waren es Polen und Russen) oder andere aus ihrer Heimat verschleppte Menschen streunten herum und nahmen unterwegs mit, was es irgendwo zu essen gab oder was sonst nicht niet- und nagelfest war.
So sorgten sich unsere Eltern, wie sie die unschätzbar wertvollen Vorräte der wenige Monate zurückliegenden Hausschlachtung schützen könnten. Mit viel Mühe hatten wir im Stall ein Schwein mit allem was sich zum Fressen eignete groß gezogen. Es wäre nicht auszudenken, wie wir ohne unsere Schlachtwaren zurecht kommen sollten. Eigene Vorräte waren neben den mageren Rationen, die jedem Einwohner auf Lebensmittelkarten zugebilligt wurden, in dieser Zeit unser wertvollster Besitz.
Hinter’m Stall entlang der Landstraße nach Elmshorn war unser Gemüsegarten. Zur Straße hin hatte mein Vater vor Jahren Weidenzweige in den Boden gesteckt und es war aus ihnen in kürzester Zeit eine stattliche Hecke herangewachsen. Ich saß nun gerne in einem der kräftigeren Büsche und wiegte im Winde hin und her. Ich beobachtete die Menschen, wie sie die Straße entlang kamen. Außerdem hatte ich entdeckt, dass sich eines unserer Hühner darunter ein Nest eingerichtet hatte. Aus ihm holte ich ab und zu ein Ei und brachte es in die Küche.
Einmal saß ich wieder auf meinem Lieblingszweig als mein älterer Bruder Christoph im Schutz dieser Weidenhecke ein richtig tiefes Loch zu graben begann. Ich wunderte mich was das sollte: „Das wird ein Einmannloch“.
Damals gruben viele Menschen auf Befehl vom Amt zum Schutz gegen Tiefflieger-Angriffe in ihren Gärten mannstiefe ‚Einmannlöcher’, in die sie im Notfall springen konnten, wenn ein ‚Flieger’ heranbrauste.
Ich wunderte mich dann aber noch mehr, als am nächsten Morgen das schöne Einmannloch verschwunden war und mein Vater an der Stelle ein großes Kartoffelbeet anlegte.
Später am Abend wurden wir neugierigen ‚Kleinen’ unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit in die merkwürdige Sache eingeweiht: Nachts hatten mein Vater und Christoph ein geräumiges Eichenfass in dem Einmannloch versenkt. Sie hatten dann die Schinken, die gerauchten Speckseiten, alle die Würste und Fleischdosen, die wir aus unserem guten Schwein hergestellt hatten, darin verschwinden lassen. Noch ein Deckel drauf und dann wieder Erde drüber. Und schon durften die Kartoffeln wachsen.
Ich habe natürlich genau verfolgt, wie in den Wochen später genau an der geheimen Stelle ein oder zwei Kartoffelpflanzen reichlich klein gerieten...
Der Krieg war seit Mai zuende. Dann kam der große Tag. Ich weiß es noch wie heute und habe das Bild vor Augen, wie der mit Hausrat vollbeladene Pferdewagen vor dem leergeräumten Haus an der Kruck stand, bereit für den Umzug nach Klein Nordende-Lieth. Man hatte meinem Vater dort an der Schule den Schulleiterposten übertragen. Ich saß allein auf dem Kutschbock und wartete auf die Abfahrt, Piper's Hans, das Pferd von unserem Nachbarn Piper, dem Milchmann, war noch nicht vorgespannt. Dabei fand ich es außerordentlich bedeutsam, dass gerade an diesem Tag meine Eltern ihren Hochzeitstag hatten: 3. Oktober 1945. Seither vergesse ich diesen Termin nicht.
Im Herbst des Jahres 1945 wurde natürlich auch die geheime Tonne ausgegraben und alle Vorräte zogen mit um ins Schulhaus nach Lieth. Dann am nächsten Morgen die grausame Entdeckung: in der Nacht waren alle diese Schätze aus unserem Keller gestohlen worden. Zusammen mit Apfelsaftflaschen, mit Gummistiefeln und sonst noch allerhand in jener Zeit so wertvollen Sachen. Es war eine Katastrophe. Wer konnte davon gewusst haben?
Von der Gemeindeverwaltung in Lieth erhielten wir gleich bei der Ankunft neue Lebensmittelkarten. Meine Mutter stand in der Küche, hatte die Karten in den Händen und rief erschrocken: „Die sind ja für ‚Normalverbraucher’. Wir sind doch ‚Teil-Selbstversorger’ (wegen unserer Hausschlachtung). Hans-Michael, lauf doch mal schnell zur Gemeindeverwaltung und tausche die Karten um.“
In der Gemeinderverwaltung standen dicht gedrängt alle möglichen Leute und hörten natürlich, was unser ‚Micheli’ mit heller Stimme dort der Gemeinde-Mitarbeiterin erklärte.
Bei der alten Ziegelei am Rothenlehm hausten viele ehemalige Fremdarbeiter in elenden Verhältnissen. Sie hatten gelernt, wie man in Notzeiten sein Überleben sicherte. Höchst unwahrscheinlich, dass wir oder die Polizei dort noch irgend etwas von unseren Vorräten gefunden hätte. (Wahrscheinlich wanderten dorthin im folgenden Sommer auch einige unserer Hühner, die sich an der Straße in warmen Sandlöchern suhlten. )
Nun waren wir nicht nur unsere so schlau gehüteten Vorräte los, sondern auch unsere Lebensmittelkarten für ‚Normalverbraucher’.
Das war der Winter 1945 / 46. Nun begann für uns eine schlimme Zeit ohne Schwein, voller Hunger, besonders schlimm für meine großen und immer hungrigen Brüder.