15 Der Mühe wert (04.11.2010)
Liebe Freunde, wißt Ihr noch, wie das mit dem „Bollwerk“ gemeint war? Lohnende Gedanken und Äußerungen nachdenklicher Zeitgenossen gegen das gedankenlose Mitschwimmen im Mainstream unserer Zeit meinen Freunden weiter zu geben. Jetzt kommt mir nach langer Sendepause ein kleiner Aufsatz in die Hände, den ich es „der Mühe wert“ finde abzuschreiben und auf die Reise zu schicken. (Aus: Christine Ax: Die Könnensgesellschaft.) Die Autorin ist Philosophin, Ökonomin und profilierte Handwerksforscherin in Europa. Als Mitglied von fx-Institut für zukunftsfähiges Wirtschaften setzt sie sich mit der Zukunft des Wirtschaftens auseinander. www.koennensgesellschaft.de
An einem der schönsten Orte Hamburgs steht eines der schönsten Gebäude
dieser Stadt. Ein klassizistisches Landhaus, das über die bürgerliche
Wohnkultur des 17. und 18. Jahrhunderts informiert. Hier stehen Möbel, die
nicht altern sollen. Die Herstellung solch kunstvoller Möbel dürfen Tischler
heute nur noch selten in Angriff nehmen. Handwerkskunst, das hat sich in
vielen Köpfen festgesetzt, ist zu teuer. So verständlich diese Einschätzung im
20. Jahrhundert gewesen sein mag, so fatal ist sie heute.
»Kunst ist, was Menschen über die Notwendigkeit hinaus der Mühe wert war”,
lautet die schönste Definition für Kunst. Notwendig ist, was uns die Not
aufzwingt. Dazu gehören Atmen, Essen, Schlafen, Trinken und in der heutigen
Gesellschaft auch die Erwerbsarbeit. Jenseits dieser Welt der Notwendigkeiten
liegt das Reich der Freiheit. Dort können wir selbstbestimmt entscheiden und
zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen.
Der Aspekt der Notwendigkeit wird zum Beispiel bei einem Gang durch ein
Kunstgewerbemuseum deutlich. Der Holzlöffel ist ein Inbegriff von
Notwendigkeit, denn wir müssen essen und wir bedienen uns in unserem
Kulturkreis des Löffels. Mir schien, dass alle ausgestellten Löffel im oben
beschriebenen Sinne Kunst waren. Jeder erzählte eine Geschichte von
Männern und Frauen, denen die Arbeit an der Schönheit dieses
Gebrauchsgegenstandes über die reine Notwendigkeit hinaus der Mühe wert
gewesen war. Und wir verstehen auch sofort: Diese Menschen waren auch
sich selbst dieser Mühe wert.
Wie anders sieht der heutige Alltag in Westeuropa aus! Seit der
Industrialisierung arbeiten wir daran, immer schneller und müheloser Güter und
Dienstleistungen herzustellen. Die meisten Artefakte sind uns heute kaum der
Mühe wert. Weder bei der Herstellung noch im Gebrauch und schon gar nicht,
wenn sie nicht mehr funktionieren. Die Mühe, die für ihre Herstellung
erforderlich war, steckt in Produktionsmaschinen und in der Logistik. Die Mühe,
die unsere Vorfahren sich in der Auseinandersetzung mit den physikalischen
Gegebenheiten der Welt gaben, ist heute zu theoretischem Wissen geronnen.
Der mühelose Überfluss, den wir heute erzeugen können, hat nicht nur viele
Menschen, sondern ebenso ihre Fähigkeiten überflüssig gemacht. Das “Prinzip
Industrie“ dominiert jetzt auch den Dienstleistungssektor und stellt jede
menschliche Mühe unter das Vorzeichen der Effizienz. Gefragt und gut bezahlt
wird nur, was die Herstellung schlanker macht. Je weniger Mühe im Produkt
steckt, desto billiger kann es angeboten werden. Desto weniger muss es uns
wert sein. Und desto leichter fällt es, diese Dinge zu entsorgen und Ersatz zu
beschaffen.
Wir müssen, auch aus ökologischen Gründen, diese Entwertungsspirale
entschleunigen und in einen Aufwertungsprozess umkehren. Am Ende muss
die Forderung nach dem, wie es der englische Sozialreformer Jeremy Bentham
formulierte, “größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl” erfüllt sein,
wenn die Rahmenbedingungen für Arbeit entsprechend gestaltet sind. Dafür
müsste die Arbeitswelt erlauben, selbst zu entscheiden, wo wir unsere
Fähigkeiten leben wollen oder wo sie wirklich gebraucht werden.
Sepp Viehauser, österreichischer Holzbildhauer und Drechsler, erzählte in den
90er-Jahren, dass er seine Kunst und sein Handwerk nicht gemeinsam
ausstelle. Er hatte immer wieder erlebt, dass seine Kunst mit den
gedrechselten Objekten zur Seite weniger wert war. Ihm selbst ging es bei der
Arbeit ganz anders: Die Herstellung von Kunst und die Ausübung des
Drechslerhandwerks machten für ihn keinen Unterschied. Beides forderte ihn in
Gänze. Für Sepp Viehauser war der Lohn der Arbeit nicht nur das Produkt,
sondern auch die Arbeit als solche, die er als eine Arbeit am eigenen Selbst
beschrieb.
Ist es ein sinnloser Luxus, wenn Menschen ihr Leben damit verbringen, eine
sogenannte brotlose Kunst auszuüben, weil die Arbeit selbst und das Ergebnis
sie glücklich machen? Weil sie es lieben, jeden Tag ein wenig besser zu
werden? Sicher nur dann, wenn man dasThema von der finanziellen Seite aus
bewertet. Aus der Perspektive von Menschen, die es in ihrer Disziplin zur
Meisterschaft bringen wollen, sieht es ganz anders aus. Nur was Menschen
jenseits der Dimension des Geldes Tag für Tag tatsächlich der Mühe wert ist,
sollte uns in Zukunft noch etwas wert sein. Denn nichts spiegelt den Wert eines
Objekts, einer Handlung oder eines Menschen besser wider, als die Mühe, die
wir uns freiwillig geben, weil sie uns über die Notwendigkeit hinaus etwas wert
ist.
Anfang der 50er-Jahre brauchte man ein Viertel aller Menschen in Deutschland
in der Landwirtschaft, um die Nahrungsmittelversorgung zu sichern. Heute sind
es nur noch zwei Prozent. Anfang der 70er-Jahre war fast die Hälfte aller
Berufstätigen in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe notwendig.
Heute ist es nur noch ein Viertel. Verteilten wir die notwendige Arbeit für die
Herstellung unseres bedenklichen Überflusses auf alle erwerbsfähigen Bürger
und Bürgerinnen, so würden 25 Wochenstunden genügen. Nach dem “Prinzip
Industrie” berechnet immer noch zu viel.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit haben wir als Bewohner der früh
industrialisierten Länder namlich tatsächlich die Wahl. Unter dem
allgegenwärtigen Vorzeichen des Überflusses können wir den bisherigen Weg
weitergehen und möglichst mühelos Produkte herstellen, die uns wenig wert
sind. Dies erfordert den Umbau der Gesellschaft im Sinne einer
Kreislaufwirtschaft. So werden viele neue industrielle Arbeitsplätze unter dem
Vorzeichen der Effizienz geschaffen. Ich betrachte dies anders: Effektiv
erscheinen für mich alle Güter, in denen Menschen verschwenderisch mit ihrer
Arbeitszeit umgehen dürfen, weil ihnen die Arbeit selbst und das Produkt der
Mühe wert ist.
Wir könnten in diesem Sinne umdenken und einen anderen Weg gehen. Wir
könnten mit neuen Maßstäben an die Welt der Arbeit und an die Welt der
Produkte herangehen. Wir könnten alles, was wir kaufen, was wir nutzen und
was wir selbst tun, aus einer neuen Perspektive betrachten. Mit dem Ziel, nur
noch Produkte herzustellen und nur noch Dienste zu leisten, die uns oder
anderen tatsächlich der Mühe wert sind. Wobei Mühe in diesem Sinne
gleichzusetzen ist mit der Kunstfertigkeit, die zu erwerben sich jemand die
Mühe machte und der Achtsamkeit, mit der ein Mensch die Arbeit ausgeführt
hat. Dann würden wir nicht mehr jene Unternehmen belohnen, derer wichtigste
Aufgabe es ist, die Talente und Mühen von Menschen überflüssig zu machen.
Wir würden gute Arbeit belohnen und Unternehmen, die Menschen den
Freiraum gewähren, den wir für gute Arbeit brauchen.