9 Geschichte wiederholt sich doch (18.04.2003)
In einem Aufsatz mit dem Titel "Waren die Germanen Kelten?" von Urs Guggenbühl (in MUSEION 2000; 5/1995) stolperte ich dieser Tage nachgerade über die nachfolgenden Passagen, wo es um die "Gefährdung Roms" geht. Hatten wir nicht gerade in allerjüngster Zeit aus dem Munde George W. Bush's, dem amtierenden Führer der größten gegenwärtigen Weltmacht, fast wortgleiche Begründungen für die Notwendigkeit gehört, in den Irak einzufallen? Schamvoll gestehe ich hier, dass ich Bush bisher Unrecht getan habe: so viel klassische Bildung hatte ich ihm nicht zugebilligt.
In seiner Betrachtung über die Germanen führt der Autor aus: ... Vor allem auf den Schilderungen von Cäsar und Tacitus beruht das Germanenbild der Nachwelt; denn die Germanen selber haben so gut wie nichts Schriftliches hinterlassen. Wie alle Kelten waren auch sie kein Schriftvolk. Cäsars und Tacitus' Berichte haben sich heute aber in entscheidenden Punkten als falsch herausgestellt. Archäologie, Genforschung und Linguistik erweisen vielmehr die Zuverlässigkeit der griechischen Überlieferungen. Cäsar weilte von 58 bis um 50 v.Chr. als römischer Statthalter in Gallien. Er griff in dieser Zeit nicht nur alle Gallierstämme an, um sie sich letztendlich samt und sonders zu unterwerfen, er führte seine Truppen auch wiederholt über den Rhein, der angeblich die Grenze zwischen den Kelten und den Germanen bilde. Letztere beschreibt er in seinem mehrbändigen Werk »Der Gallische Krieg« wie folgt: » Die Germanen haben ganz andere Bräuche [als die Gallier, die von den Römern so genannten Kelten]; ihr ganzes Leben besteht nur aus Jagen und Kriegsübungen ... Ihr mit Abstand grösster und kriegerischster Stamm ist der der Sueben [die Vorfahren der Schwaben]. Er soll aus 100 Gauen bestehen. Jeder von ihnen stellt jährlich aus der Hälfte der Männer ein Heer zusammen, um ausserhalb des Gaugebiets Krieg zu führen. Die anderen, die zu Hause bleiben, sorgen für die Ernährung aller. Sie ziehen im folgenden Jahr in den Krieg, und die ersteren bleiben zu Hause. So sind jederzeit alle in Landwirtschaft und Kriegsdienst gleich geübt. Bei ihnen gibt es kein privates Landeigentum. Man darf auch nicht länger als ein Jahr an einem Ort Landwirtschaft betreiben. So ernähren sie sich weniger von Getreide als vielmehr von Milch und Fleisch. Zudem gehen sie häufig zur Jagd. Wegen ihrer Jägerei, ihrer Ernährung, ihrer alltäglichen Kriegsübungen und ihres ungezügelten Lebens - Kinder werden weder zu Pflicht noch zu Disziplin erzogen, und sie tun nichts, was ihnen nicht passt - sind sie so stark und so ungeheuer gross. Obwohl es in Germanien extrem kalt ist, baden sie in ihren Flüssen und tragen bloss Felle, die allerdings zumeist sehr klein sind, so dass der grösste Teil des Körpers nackt bleibt. Handel treiben sie nur, um ihre Kriegsbeute absetzen zu können und nicht, um etwas zu erwerben. Wein etwa darf gar nicht eingeführt werden, weil er einen ihrer Ansicht nach zu faul und weichlich macht, um die Anstrengungen ihres Lebens noch ertragen zu können. In ihren Wäldern leben viele Tierarten, die man sonst nirgends zu sehen bekommt. Eines dieser Tiere ist ein hirschartiges Rind. Mitten auf der Stirn, zwischen den Ohren, hat es ein einzelnes Horn, länger und gerader als die Hörner, die wir kennen, und mit Verästelungen an der Spitze ... « (Gall. 4 und 6) Dies ist also das sagenhafte Germanenporträt Cäsars, auf das sich die Nachwelt stützte. Heute weiss man aber: Es gab das Einhorn nicht. Auch waren die Germanen keine fellbekleideten Wilden, sondern sie trugen leinene oder wollene Gewänder; Beinkleider sind in Mitteleuropa bereits um 500 v. Chr. nachgewiesen. Lange vor Cäsar gab es schon einen regen Handel mit den griechischen Provinzen und mit Rom. Eingeführt wurden sogar kostbare Artikel, wie etwa Bronzegefässe aus den berühmtesten Werkstätten Kampaniens. Dank der heutigen Wissenschaften lässt sich Cäsars Behauptung widerlegen, die Germanen hätten ihre Volkswirtschaft auf die Kriegführung ausgerichtet und sich hauptsächlich aufs Jagen verlegt. Es müssten die Germanen schon ausgesprochen schlechte Jäger gewesen sein; denn in ihren Siedlungsabfällen beträgt der Anteil der Wildtierknochen an der gesamten Nahrungsknochenmenge in aller Regel nicht mehr als nur gerade ein bis zwei Prozent ... Mit seinen falschen Darstellungen wollte Cäsar das wahre Motiv seiner Überfälle auf die Gallier und die Germanen vertuschen. Für Kriege gab es nämlich keinen Anlass. Weder die Gallier noch die Germanen haben Cäsars Rom bedroht. Dieser brauchte hingegen Gold und Sklaven, um mit dem Erlös seine enormen Schulden begleichen zu können. Als Begründung für seinen Krieg gegen die Germanen 58 v.Chr. gab Cäsar an, diese seien »eine Gefahr für das römische Volk«; (Gall. 1, 33,3) denn sie hätten den Rhein bereits überschritten und sämtliche Orte der keltischen Sequaner - sie lebten damals südwestlich der Linie Basel-Strassburg - in ihrer Gewalt. Weiter behauptete er: » Wenn sie erst ganz Gallien unterworfen haben, so hält diese wilden und barbarischen Menschen nichts mehr davon ab, in die Provinz [Südfrankreich] einzufallen und weiter nach Italien zu ziehen.« (Gall. 1, 33,4) In Tat und Wahrheit lebten Germanen schon längst westlich des Rheins, sie hatten sich dort friedlich niedergelassen. Von der angeblichen Besetzung der Städte der Sequaner kann keine Rede sein. Nicht nur hat man in deren Hauptstadt Vesontio (heute Besançon) nichts davon gemerkt; die Gallier unterhielten mit ihren germanischen Nachbarn auch völlig gleichberechtigte Handelsbeziehungen. Von Cäsars Bericht abgesehen gibt es denn auch keine sonstigen Hinweise auf eine Bedrohung durch die Germanen. Den Sequanern und den mit ihnen befreundeten keltischen Stämmen war sein Angriff sogar ausgesprochen unerwünscht. Wie der römische Schriftsteller Frontinus (lebte im 1.Jh. n.Chr.) überliefert, hat Cäsar die Germanen in krassester Verletzung aller kriegs- und völkerrechtlichen Bestimmungen niedergezwungen. Die angeblich so angriffslustigen und kriegshungrigen Germanen versuchten nämlich, dem Kampf auszuweichen, und verschanzten sich in ihrem gut bewehrten Lager. Cäsar erkannte offenbar, dass er sie nicht in nützlicher Frist oder nur unter zu grossen eigenen Verlusten besiegen könnte. So bot er ihnen heimtückisch freien Abzug an. Als die Germanen das Lager auf Cäsars Zusagen hin verlassen hatten, fiel er in einem Hinterhalt über die Abziehenden her. 80 000 liess er niedermetzeln, auch Alte, Frauen und Kinder. 40 000 machte er zu Sklaven. Genauso war er nur Monate zuvor gegen die Helvetier vorgegangen; auch sie hatte er im Hinterhalt niedergemacht. Jede eigenmächtige Kriegführung war einem römischen Statthalter aufs strengste verboten. Nicht von ungefähr hatten Cäsars Truppen vor seinem Krieg gegen die Germanen zuerst mit Meuterei gedroht, » weil sie einen weder gerechten noch vom Senat und Volk beschlossenen Krieg anfangen sollten, einzig zur Befriedigung von Cäsars privatem Ehrgeiz. Sie drohten sogar, ihn im Stich zu lassen, wenn er seinen Plan nicht ändere.« (Cassius Dio, 38,35,2) Im römischen Senat verlangte Cato ob dieses Völkermords im selben Jahr, » man müsse Cäsar den Barbaren [gemeint sind die Germanen] ausliefern, um den Bruch des Waffenfriedens im Namen Roms zu sühnen und den Fluch dafür auf den Alleinschuldigen zu lenken«. (Plutarch, Caes. 22) Cäsar wollte mit seinem 51 v.Chr. veröffentlichten Werk »Der Gallische Krieg« alles andere als eine wahrheitsgetreue Volksbeschreibung verfassen. Es war vielmehr zur Vertuschung und Rechtfertigung gedacht; denn in Rom wurde immer intensiver darüber diskutiert, ob er nicht seines militärischen Kommandos enthoben und für sein eigenmächtiges Vorgehen zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Weil er diese innenpolitische Auseinandersetzung zu verlieren drohte, unternahm er 49 v.Chr. schliesslich einen Militärputsch. Seine Selbstbelobigung als Beschützer und Befreier Roms vor der angeblich durch die Germanen drohenden Gefahr glaubte man ihm damals übrigens nicht. Erst Spätere verneigten sich ehrfurchtsvoll vor solcher "Grösse"; erst Spätere wollten in ihm einen »begnadeten Führer« (Meier), den »Retter des Römertums« (Mommsen) und überhaupt den »herrlichsten Menschen« (Nietzsche) erkennen. ...