4 Schulbildung in Deutschland (19.01.2002)
Im letzten Rundbrief einer Waldorfschule in Stuttgart finde ich den folgenden Beitrag. Sein Autor Dr. Rainer Patzlaff war Lehrer unserer Töchter, als sie noch die Schulbank drückten. Weil das Thema Bildung in Deutschland die öffentliche Debatte zum Glück gerade mal wieder interessiert, passt dieser Baustein vielleicht gut in die Landschaft.
Kindheit in Not
Auch wenn die Öffentlichkeit noch wenig Notiz davon nimmt - es bleibt eine Tatsache: Das Ausmaß der Entwicklungsdefizite, die Ärzte und Erzieher heute bei Kindern schon in jüngsten Jahren feststellen, wird immer bedrückender. Selbst fundamentale Fähigkeiten wie die Beherrschung von Tast-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn sind nicht mehr selbstverständlich, die motorische Entwicklung bleibt zurück, Sprachentwicklungsstörungen verbreiten sich (jedes vierte Vorschulkind ist schon betroffen), Schlafstörungen, extreme Fettsucht, Allergien und viele andere Krankheitsdispositionen nehmen rapide zu. Und das nicht nur bei Kindern aus sozial schwachen Bevölkerungsschichten, sondern quer durch alle Gesellschaftsschichten. Bei den Untersuchungen zur Schulreife finden die Ärzte kaum noch Kinder, die rundherum als gesund zu bezeichnen sind; die meisten kommen bereits mit körperlichen oder sogar seelischen Belastungen in die Schule, viele zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität in den ersten Schuljahren werden immer mehr zum Problem, dem verzweifelte Eltern inzwischen auch in Deutschland mit Ritalin zu Leibe rücken, einem schweren Psychopharmakon. Das gesunde Heranwachsen der Kinder in unserer Gesellschaft ist offenkundig bedroht wie nie zuvor.
Zu den vielfältigen Ursachen dieser alarmierenden Entwicklung zählen die Fachleute unter anderem soziale Kälte, Bewegungsmangel, ungenügende Spielmöglichkeiten, das Fehlen einer entwicklungsfördernden Umgebung, Reizüberflutung, und nicht zuletzt den ausufernden Medienkonsum. Das alles sind Faktoren, für die nicht genetische Defekte verantwortlich zu machen sind, sondern wir selbst. Die Kinder spiegeln mit ihren Problemen die Situation wider, die wir ihnen zumuten. Ihre "Defizite" sind die Defizite der Gesellschaft.
Statt aber ein Umdenken zu veranlassen und die natürliche Sinnesentwicklung zu fördern, soziale Wärme, Spiel, Bewegung und Eigenaktivität, setzen Bildungspolitiker auf den Computer als pädagogisches Wundermittel und fordern seinen Einsatz nicht nur von der ersten Klasse an, sondern auch schon im Kindergarten. Vielerorts sind diese Pläne - massiv unterstützt von der Medienindustrie - bereits Wirklichkeit geworden. Berechtigte Zweifel werden beiseite geschoben, die Eltern beruhigt mit dem Argument, ihr Kind werde den Anschluss an die moderne Entwicklung verpassen, wenn es nicht rechtzeitig gefördert werde. Und wer möchte schließlich nicht das Beste für sein Kind? Selbst für Babys unter 1 Jahr bietet der Handel bereits Computer und Lernkassetten an, Surrogate also an Stelle der so notwendigen Primärerfahrungen.
Was ist zu tun?
Es scheint an der Zeit, nach der ökologischen eine sinnesökologische Bewegung zu initiieren, die der Erkenntnis zum Durchbruch verhilft, dass sich das volle Spektrum seelischer und geistiger Fähigkeiten nur auf der Grundlage einer umfassenden, hochdifferenzierten Ausbildung der Sinne und des Bewegungsorganismus entfaltet. Neueste Forschung zeigt, dass die kindlichen Gehirnstrukturen ihre Reife erst durch vielfältigste, reiche Tätigkeit mit dem ganzen Leib und mit allen Sinnen erlangen. Die entscheidende Anregung dazu kommt nicht von der Lernmaschine, sondern von den Erwachsenen, die durch ihre Zuwendung und ihr warmes Interesse die innerste, ureigenste Aktivität des Kindes zu entfachen wissen, so dass es sich mit Energie die Welt erobert, sie erkundet und erforscht. Dem autonomen Selbst des Kindes die Wege zu bahnen ist unsere Aufgabe, die Aufgabe einer spirituell orientierten Pädagogik. Sie richtet sich nicht technikfeindlich gegen Medien, sondern gegen Medien am falschen Ort und im falschen Alter.
Intentionen des Instituts
Es ist nicht damit getan, den "Erziehungsnotstand" (wie er in neuesten Publikationen genannt wird) zu bejammern. Praktische Hilfe ist gefragt, Hilfe, die an die Wurzeln des Problems geht. Die Wurzel liegt in der frühen Kindheit, liegt bei den Eltern, die angesichts veränderter Berufssituationen, zerbrechender Familienstrukturen und schwindender Traditionen immer weniger wissen, wie sie ihren Erziehungsaufgaben in der rechten Weise nachkommen sollen. Selbst die Instinkte schweigen, und so muss alles neu aus Erkenntnis errungen werden was bisher wie von selbst zu geschehen schien. Dazu aber bedarf es der Grundlagen durch eine spirituell vertiefte Kindheitswissenschaft, durch eine pädagogische Sinnes- und Medienökologie, und die soll in unserem neu gegründeten Institut sowohl durch wissenschaftliche Forschungsarbeit wie auch durch Schulungsangebote, Öffentlichkeitsarbeit, Vorträge, Seminare, Fachtagungen, Publikationen allmählich aufgebaut werden. Ziel ist dabei ein fruchtbares Miteinander von Medizin und Pädagogik, von Erziehern und Therapeuten, Wissenschaftlern und Praktikern, aber auch die Kooperation mit möglichst vielen verwandten Einrichtungen im öffentlichen Raum. Es ist an der Zeit, dass wir aus der "Waldorfnische" herauskommen und uns mit allen verbünden, denen die gleiche Sorge um die Kindheit auf den Nägeln brennt.
Als erste konkrete Aktion haben wir mit einem Beraterkreis aus Hebammen, Kinderärzten, Kindergärtnerinnen und Therapeuten einen berufsbegleitenden Ausbildungsgang konzipiert für Menschen, die in der Arbeit an kleinen Kindern stehen und sich für den neuen, immer mehr an Bedeutung gewinnenden Arbeitsbereich eines Elternberaters in der frühen Kindheit qualifizieren wollen. Der Kurs beginnt im März 2002 und erfährt bereits rege Nachfrage. Programme können im Institut angefordert werden. Ein weiterer Ausbildungsgang für medienpädagogische Berater/innen ist geplant.
Am 30.April/1.Mai 2002 treten wir in Frankfurt/Main an die Öffentlichkeit mit unserem "Forum Mensch und Medien" zu dem Thema Forschungsfeld Frühe Kindheit, zu dem Ärzte, Wissenschaftler und Künstler aus verschiedenen Bereichen sprechen und Workshops geben werden.
An Forschungsfeldern für unsere interne Arbeit mit derzeit vier wissenschaftlichen Mitarbeitern haben wir uns vorgenommen:
-Sinnesphysiologische Medienwirkungen
-Medienpathologie und Medienprävention
-Lerncomputer und Videospiele
-Sprachentwicklungsstörungen
-Medienpädagogik
RAINER PATZLAFF
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