8     Verarmung      (25.03.203)

Vom kargen Leben und vom Elend der Menschen in Ländern des Nahen Ostens hören und sehen wir in diesen unseligen Kriegstagen täglich. Und wir denken, wie haben wir es doch besser. Stimmt wohl auch. Bis einem da so ein harmloser Text unterkommt, der dich doch sehr nachdenklich macht.

Ich lese dieser Tage im Tagebuch von Rafik Schami, in dem er vor allem zu den Terroranschlägen in USA, zu den Vorgängen in Israel und Palästina, zur Arabischen Welt seine Notizen macht. Er stammt aus Syrien und lebt seit 1971 als deutscher Bürger im Pfälzischen. Beim Lesen dieser Passage denke ich: Oh je, Fortschritt, ist das dein Name?

 

"Abends hatten wir Gäste. Ich mußte einkaufen gehen. Ich brauchte drei Stunden, mußte siebenmal parken, einmal im Stau stehen, bis ich alles erledigt hatte. Manchmal frage ich mich, ob dieser Fortschritt nicht in die falsche Richtung geht. Nach jedem heftigen Regenfall werden viele Orte überschwemmt, als wäre Deutschland eine Provinz in Bangladesch. Im Umkreis von vierzig Kilometern gibt es manchmal keine Bäckerei, die eine einzige genießbare Sorte Brot backt. Dabei war Deutschland einmal ein wunderbares Land des Brotes. Zugegeben, ich komme aus einer Familie, die seit über hundert Jahren Brot produziert. Mein Anspruch an die Brotqualität ist bekanntermaßen der höchste auf Erden - aber warum auch nicht? Was fehlt den Bäckern hier, um Brot bester Qualität herzustel-len statt dieser im Schnellverfahren gebrannten, nach Chemikalien schmeckenden billigsten Brote aus Backmischungen? Das Gemüse ist eine einzige nach nichts schmeckende Katastrophe mit niederländischem Stempel. Sogar der türkische Lebensmittelhändler schließt sich der Belagerung der Ge-schmacklosigkeit an und verkauft solchen Schrott. Vom Fleisch will ich gar nicht reden, weil inzwischen sogar die Boulevardzeitungen kritisch eingestellt sind gegenüber dem kriminellen Umgang mit den armen Viechern. Nicht selten vergleiche ich mein syrisches Dorf Malula mit den Dörfern hier. Malula, das nicht mehr als dreitausend Einwohner zählt, läßt siebzig Prozent der deutschen Dörfer als unterentwickelt erscheinen. Nach einer zuverlässigen Auskunft verfügt Malula über drei Bäckereien, zehn Gemüse-, sieben Lebensmittel- und Haushaltsläden, fünf Metzger, mehrere Cafés und Restaurants, drei Kirchen, zwei Klöster, eine Moschee, mehrere Kapellen, zwei Friseure, einen Zahn- und einen Allgemeinarzt, eine gut ausgerüstete Ambulanz, eine Apotheke, ein Postamt, mehrere öffentliche Telefonzellen, eigene Produkte von Weizen über Eier bis hin zu Obst, Wein und Honig, preiswerte Fahrmöglichkeiten rund um die Uhr und stündlich mit Bus und Taxi nach Damaskus, eine Polizeistation, ein Bürgermeisteramt, ein exzellentes Hotel, mehrere Pensionen, eine technische Verwaltung, eine eigene Müllabfuhr, zwei Schulen und vieles mehr. In Deutschland gibt es Dörfer ohne Metzger, Bäcker, Lebensmittelläden oder Schulen. Wahrscheinlich ist das auch so, weil die Menschen hier motorisiert sind und man zum Einkaufen, in die Schule, in die Kirche, auf die Post oder zum Friseur in die nächstgelegene Stadt fährt. Irgendwie müssen ja diese Autos, da nun einmal produziert, auch gefahren werden."