Verhaltensauffällig? (23.9.2012)
In meiner Morgenzeitung (Elmshorner Nachrichten, Nummer 223, 2012) lese ich heute den folgenden Bericht und kann mein Kopfschütteln gar nicht mehr in den Griff bekommen. Wer ist denn wirklich verhaltensauffällig? Bin ich es, weil ich einer älteren Generation angehöre und das Leben nicht mehr so recht verstehe? Ist es der junge Mann, der auch ohne die anscheinend vorgeschriebenen medientechnischen Wege mit seinen Mitmenschen kommuniziert und dabei fröhlich und vergnügt überlebt? Oder sind es die Allmachtsgefühle einer Behörde und eines „behandelnden“ Arztes, die sich vom so unwiderstehlichen Verführungsschwung unserer Tage mitreißen lassen?
Ich hoffe im Geheimen, die Sache ist eine gut erfundene Geschichte mit zeitkritisch gemeintem Zeigefinger. Jedenfalls ist sie so schön, dass ich sie hier weitergeben will.
Jo, das dürfte ihm nicht gefallen: Der 22-jährige Sven B. aus Elmshorn wurde gestern zwangsweise in die Psychiatrie des Regio-Klinikums eingewiesen, weil er keinen Account bei dem sozialen Netzwerk Facebook hat. Zuvor hatten Freunde die Gesundheitsbehörden alarmiert, weil sie sich wegen des asozialen Verhaltens des jungen Mannes große Sorgen machten.
"Der arme Sven", postet eine Freundin von B. in ihrer Facebook-Timeline.,,Er war immer so fröhlich und hat behauptet, er bräuchte kein Facebook, um mit seinen Freunden zu kommunizieren. Wir haben alle gewusst, dass das nicht stimmen kann." Viele von Sylvias 489 Facebook-Freunden bestätigten dies sofort mit ,,:-(", ,,(o-O)" oder,,Gefällt mir". Dabei gab es überhaupt keinen offensichtlichen Grund, warum Sven B. kein Mitglied des sozialen Netzwerkes war. Seinen Freunden zufolge verfügte er über ein profilfotogenes Äußeres, einen internetfähigen Rechner und zwei gesunde Hände, mit denen er seine Timeline ein Dutzend Mal am Tag hätte aktualisieren können.
Nun sitzt Sven B. in der geschlossenen Abteilung und bekommt starke Medika-
mente. Sein behandelnder Arzt sagt: ,,Ein 22-jähriger, der nicht bei Facebook oder wenigstens Xing, Twitter oder Google+ ist, gilt als stark verhaltensauffällig -
oder wie der Laie es nennt -verrückt."
Sven B. darf die psychiatrische Anstalt laut Behördenangaben erst wieder verlassen, wenn er sein Fehlverhalten eingesehen hat. Es reicht allerdings nicht, dass der junge Mann einfach nur einen Facebook-Account anlegt. Er muss mit regelmäßigen Statusupdates und aufdringlichen Freundschaftsanfragen bei Leuten, die er gar nicht kennt, beweisen, dass er ihn auch wirklich nutzt.
joa